Aachener Bachverein stimmt auf Karwoche ein

Es muss nicht immer Johannes oder Matthäus sein

Von Pedro Obiera

Aachen. Der Aachener Bachverein stimmt mit der Markus-Passion auf die Karwoche ein. Über den Wert der Rekonstruktion kann man allerdings streiten.

Mit Johann Sebastian Bachs Markus-Passion brachten Georg Hage und der Aachener Bachverein in der voll besetzten Kirche St. Michael ein wenig Abwechslung in die sonst nahezu ausschließlich auf die Passionen nach Johannes und Matthäus beschränkten Musikangebote zur Passionszeit. Zu hören waren damit zwar zwei anregende Stunden mit authentischen Klängen aus der Feder des großen Thomaskantors.

Ungeachtet des hohen musikalischen Niveaus der Aufführung und des damit verbundenen beträchtlichen Aufwands hinterließ der Vortrag dennoch einen schalen Nachgeschmack. Letztlich handelt es sich um die Rekonstruktion eines Werks, von dem nicht mehr als zwei Libretti erhalten sind. Auch wenn sich ganze Heerscharen von Musikforschern darum kümmerten, Bezüge zu anderen geistlichen Werken Bachs herzustellen und die Nummern mosaikartig damit zu füllen, bleibt das ganze Produkt eine hochspekulative Angelegenheit von eher bescheidenem Wert.

Hage stützt sich auf einen Rekonstruktionsversuch von Alexander Grychtolik, der grundsätzlichen „Anschauungsfragen“ eher aus dem Weg gehen und viel lieber seine „stilistische Annäherung“ auf „stilistisch-kompositionshandwerklicher Ebene“ in den Blickpunkt rücken möchte. Eine merkwürdige Haltung: Was würde man von einer „stilistischen Annäherung“ an die Matthäus-Passion oder Mozarts „Don Giovanni“ halten, wenn uns davon nur die Textbücher zur Verfügung stünden?

Gerade weil Bach in seinen beiden großen vollständigen Passionen die gleiche Geschichte musikalisch sehr unterschiedlich ausgeleuchtet hat, dürfte auch von der Markus-Passion eine individuelle Perspektive zu erwarten sein, die durch Grychtoliks spekulative Puzzle-Arbeit nicht im Geringsten erfasst werden kann.

Da immerhin jeder Takt auf Bach zurückzuführen ist, ist an der Qualität der einzelnen Nummern allerdings nichts auszusetzen. Gegenüber den bekannten Passionen fallen die relativ wenigen Turba-Chöre der aufgebrachten Volksstimmen und die ungewöhnliche Häufung der Choräle auf, was dem ganzen Werk einen empathischen Trauerton verleiht. Die Turba-Chöre lassen in Aachen nichts an dramatischer Schlagkraft vermissen, die zügig genommenen Choräle hätten stilistisch und klanglich allerdings schon ein wenig stärker differenziert werden können.

Im Vergleich zu den eher sparsam gesetzten Arien nehmen die Rezitative einen überdimensionalen Raum ein. Den Löwenanteil hat dabei Florian Cramer als stilsicherer, deutlich artikulierender und intelligent gestaltender Evangelist zu bewältigen. Für die Christus-Worte hat sich Grychtolik für die Variante der Matthäus-Passion mit samtweicher Streicherbegleitung entschieden, zu der der sicher geführte, aber eher herb timbrierte Bass von Raimund Nolte nicht so recht passen wollte. Mit profunder Bass-Schwärze gestaltete dagegen Maximilian Haschemi gleich fünf kleinere Männerpartien. Kultiviert, in jeder Hinsicht kontrolliert und tonschön interpretierte Elisabeth Popien die Alt-Arien, während Silke Schwarz‘ Sopran recht unruhig wirkte.

Lang anhaltender Beifall des Publikums für eine kuriose „Entdeckung“ insgesamt eher zweifelhaften Rangs.

Aachener Nachrichten, 16.04.2019